Zweite Tagung der Internationalen Gesellschaft für Architektur und Philosophie

Angesichts des zunehmenden Interesses an einer Erneuerung der Ästhetik, das sich hinsichtlich der Architektur in der jüngsten Zeit vor allem in Untersuchungen zum sogenannten „Spatial turn“ (J. Döring/C. Thielmann 2008, G. Lehnert 2011) niederschlägt, veranstaltet die Internationale Gesellschaft für Architektur und Philosophie ihre zweite Jahrestagung zum Thema „Architektur und Aisthesis“, um damit unter Berücksichtigung von Körper und Gefühl die Bandbreite des genannten Interesses in Rücksicht auf zentrale anthropologische Perspektiven zu erweitern.

Aisthesis bedeutet etwas anderes als Perzeption oder Wahrnehmung. Mit diesem Wort entzieht man sich gewissermaßen der mehr oder weniger bewußten frontalen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, bzw. von Ich und Welt. Im Gegenteil: hier spielt vielmehr ein durch die Sinne verwirklichter Kontakt zwischen beiden eine Rolle, der als ein Diesseits oder als ein Vorher der Auseinandersetzung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen verstanden werden darf. Dieses „Vorher“ der wahrnehmenden Gegenüberstellung gründet in der Leiblichkeit. Es ist ineins ein sowohl körperliches als auch ein präbewußtes affektives Sich-Fühlen. Hier ist also nicht die zum Hervorbringen einer begrifflichen Wahrheit nötige Wahrnehmung gemeint, sondern ein durch die Sinne vermitteltes Zusammentreffen mit der Welt, oder besser gesagt, eine Konstruktion der Welt im sinnlichen und affektiven Zustand des Subjekts. In diesem präbewußten Zusammentreffen spielt sich die ursprüngliche Gestaltung der Welt durch den Menschen ab.

Wie verhalten sich nun zu dieser aisthetischen Gestaltung der Wirklichkeit die Leistungen der Architektur, d.d.s. Bauen und Wohnen? Ein Merkmal der architektonischen Perzeption besteht darin, dass sie zugleich eine Rückwirkung auf das Subjekt ist und das nicht nur durch den synästhetischen Eindruck, den diese Perzeption umfasst, sondern auch durch die Erregung von Gefühlen, die eine besondere Stimmung oder Atmosphäre bilden, und letztendlich auch durch die mehr oder minder zwingende Bestimmung der Körperbewegungen. Ähnlich der wahrnehmenden, manchmal das Subjekt geradezu überfordernden Rezeption des Gebäudes steht hier die Bestimmung des körperlichen und affektiven, Gefühls- und Ideenlebens durch das Gebäude im Zentrum des Tagungsvorhabens. Das heißt, so wie einerseits das Subjekt die Architektur bildet, so ‚gestaltet’ andererseits die Architektur das Subjekt und diese Wechselwirkung zwischen beiden ist ineins durch die aisthetische Gründung und Wirkung der Architektur garantiert.

Die erste Frage einer Theorie der architektonischen Aisthesis ist die nach der Möglichkeit eines Logos dieser Aisthesis. Welche Wörter und Begriffe sind dem Subjekt gegeben, um die Einheit von Wahrnehmung und Gefühl zu beschreiben, die sich z.B. bei den Wahrnehmungen des Rottons des Chinesischen Pavillons auf der Expo in Shanghai, oder des merkwürdig matten Glanzes und Wiederscheins auf der Kuppel der Invalides einstellt? Die sich daran anschließenden Fragen lauten: gibt es Gesetze der architektonischen Empfindung und Wahrnehmung, und welche sind es? Ferner, welche Verbindung besteht zwischen den mathematischen Konstruktionsgesetzen der Architektur und den Gesetzen, die die durch die Architektur bestimmten Affekte regeln? Mit den Fragen nach Logos und Gesetz der Empfindung hängt die Frage nach dem Zusammenspiel des Individuellen und Kollektiven in dem durch Architektur verursachten Fühlen und Sich-Fühlen unmittelbar zusammen. Ein solches Zusammenspiel kulminiert nicht zuletzt in der politischen Dimension der Architektur und in den entsprechenden politischen Prägungen der Empfindungs- und Gefühlslebensgestaltung des Rezipienten. Solche Prägungen manifestieren sich als konkrete Erfahrungen der unmittelbaren Vermittlung von Subjekt und Objekt. Daraus resultiert die Möglichkeit eines Rekurses auf die aktuelle Frage nach dem Atmosphärischen (Stimmung, mood) überhaupt sowie insbesondere die nach den für den gegenwärtigen Diskurs aktuellen phänomenologischen Versuchen einer Neugestaltung der Ästhetik als Aïsthetik im Sinne eines Wissens von einer polymorphen, stets mit der eigenen Befindlichkeit verknüpften Aisthesis. Somit erscheint die Annahme berechtigt, dass Architektur, die sowohl an die schönen Künsten grenzt, als aber auch ganz lebenspraktisch im Zentrum des humanen Lebens steht, eine besondere Rolle nicht nur für eine Umwendung bzw. Weiterentwicklung der Ästhetik, sondern auch für das Nachdenken über die Formen, in denen sich das Leben im Zeitalter der Technik auf sich selbst bezieht, spielt.

Seitens der Architektur stellt sich die Frage nach den ihr eigentümlichen anthropologischen Implikationen und dies insbesondere in Rücksicht auf die unter historischen Gesichtspunkten betrachtete architektonische Konstruktion. Durch welche Aspekte ist die Beziehung zwischen Bauen und Aisthesis in der Geschichte bestimmt und von welcher Symbolkraft sind diese Aspekte? Schon am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Architektur als „Raumgestalterin“ (A. Schmarsow) begriffen worden: Wie vermag sie den gefühlten Raum mit dem erlebten und mit dem gebauten Raum zu verbinden? Und welche Konsequenzen lassen sich daraus hinsichtlich der räumlichen Entwicklung der aisthesis ziehen? In diesem Zusammenhang ist auch nach den in der Entwurfslehre nicht mehr wegzudenkenden abstrakten, digitalen Werkzeugen des Bauens zu fragen: wie verändert sich die architektonische Wahrnehmung in der Entwicklung vom ideellen Entwurf zur realen Bautechnik (von der software zur Baustelle) und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf das menschliche Fühlen und Sich-Fühlen in der Praxis des Bauens?

Die Fragen, die die Erörterung der Beziehung zwischen Architektur und Aisthesis eröffnen, sind sowohl architektur- und ästhetiktheoretischer, als auch anthropologischer, geschichtlicher, politischer und praktischer Prägung. Diese Fragen zu formulieren, und tentativ zu beantworten, ist nur in einem interdisziplinären Zusammenhang möglich, so wie er von der Gesellschaft für Architektur und Philosophie kultiviert wird, in der Architekten, Philosophen, und Kunsthistoriker zusammen arbeiten. Eine solchermaßen ausgerichtete internationale Kooperation von Fachkollegen läßt auf vielfältige Einblicke in Themen und Methoden der Erörterung des Verhältnisses zwischen Architektur und Aisthesis hoffen.

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Veranstalter:


 

Veranstaltungsort:

Galerie Colbert
2 rue Vivienne
75002 Paris
Salle Walter Benjamin

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